Kulturtechnik des Journalismus

Auf Einladung von Prof. Dr. Schiffer konnten wir Ekkehard Sieker als Gastvortragenden im Journalismus-Seminar begrüßen, ein wandelndes Wissenslexikon mit reichem Erfahrungsschatz und feinem Humor. Die ,Kulturtechnik weist hier auf die in der Gesellschaft verankerte Kultur hin, welche, wenn sie demokratisch ist, immer für das Volk und deren Meinungsbildung einstehen müsse. Das sei der Auftrag von Journalisten.

Zunächst ordnete Ekkehard Sieker, der jahrzehntelange Erfahrung als Journalist und in der Recherche mitbringt, die Begriffe “Fake News”, „alternative Fakten“ und „Faktenchecker“ ein. Dabei verwies er auf die Entstehungsgeschichte und den -zusammenhang der Begrifflichkeiten. Der Begriff “alternative facts” komme hierbei ursprünglich aus dem US-amerikanischen Justiz-Jargon und beschreibe im Kontext von Gerichtsverfahren, was etwa die Gegenseite des Klägers vorträgt. Es handle sich dabei also streng genommen um eine Sachverhaltsschilderung, die eines Beweises bedarf. “Facts” wären demnach die Sachverhalte, wie sie die eine Seite sieht, und “alternative facts” die Sicht der anderen Seite. Die Wahrheitsprüfung müsse dann im Prozess stattfinden.

Die seit langem schon vor US-Gerichten immer wieder benutzte Terminologie wurde schließlich durch die Trump-Beraterin und Juristin Kellyanne Conway bei einer Pressekonferenz Anfang 2017 zu PR-Zwecken genutzt und damit auf ungewöhnliche Weise politisiert. Conway versuchte die zuvor vom Präsidenten-Team gemachten zahlenmäßig übertriebenen Aussagen zu den Zuschauerzahlen bei Trumps Amtseinführung als “alternative facts” zu rechtfertigen. Sie benutzte also den juristisch bekannten Ausdruck PR-taktisch als Euphemismus für eine nachweislich falsche Behauptung. Der danach auch in Deutschland aufgegriffene Ausdruck „alternative Fakten“ wurde dann – nunmehr seines juristischen Hintergrundes entkleidet – zum Unwort des Jahres 2017 „geadelt“ und wird seither politisch in der öffentlichen Diskussion als Label für eine glatte Lüge verwendet. Damit würden – so Sieker – ursprünglich gleichermaßen auf ihre Wahrheit hin zu überprüfende “facts” und “alternative facts” zu zweifellos wahren „Fakten“ beziehungsweise zu unhaltbar falschen „alternativen Fakten“ umgedeutet. Wichtig sei bei derart politisierten Schlagworten, wie „alternative Fakten“, „Fake-News“ und teilweise sogar “Fact checking”, darauf zu achten, dass man sich auf keinen Fall von den effektiven Sachverhaltsabklärungen ablenken lasse, also von der Prüfung, wie es denn – über die Klarstellung kleiner Details hinaus – um die wesentliche Sachlage bestellt sei und was dazu wichtig wäre zu recherchieren und zu wissen.

Sieker appellierte daher an die Journalistinnen und Journalisten, selbstständig mehr herauszufinden: Was bedeuten wichtige Wörter und Aussagen eigentlich? Sind die Behauptungen überhaupt überprüfbar? Was ist denn bisher nachweisbar geschehen? Und erst dann: Worum geht es den Akteuren wirklich? Oder: Was sind die politischen, wirtschaftlichen, etc. Hintergründe? Man kann Dinge einem Publikum kaum verständlich machen, die man zuvor selbst nicht verstanden habe. Welche Mittel und welche Zeit für Recherchen benötigt werden, sei frühzeitig abzuschätzen.

Sieker berichtete zudem von seiner Erfahrung als Faktenchecker bei der ANSTALT (ZDF) und betonte den journalistisch-aufklärerischen Anspruch der Satire-Sendung. Dabei war es ihm wichtig, darauf einzugehen, dass das Internet keine dauerhaft verlässliche Quelle sei, da die Inhalte oftmals nach kurzer Zeit nicht mehr aufrufbar sind. Auch die diversen Wayback-Maschinen garantieren nicht eine langfristige Zugänglichkeit zu fast allen Internetquellen. Daher müssten zunächst Autoren selbst die wesentlichen Inhalte der von ihnen aufgeführten weltweit verbreiteten Netzquellen dauerhaft speichern und möglichst abrufbar zur Verfügung halten. Eine Überprüfbarkeit der jeweils benutzten Quellen müsse im Nachgang langfristig gewährleistet sein.

Dass sich der Begriff “Fake News” ab 2014 ständig weiterentwickelt hat, zeigte Sieker mit Hilfe eines Ausschnitts aus der Sendung DIE ANSTALT vom Februar 2017. Die dort genannte “East StratCom Task Force” trete im Mantel der journalistischen Korrektur auf, aber eigentlich handle es sich dabei schlichtweg um eine Stelle für Regierungs-PR des Europäischen Auswärtigen Dienstes der EU, welche strategische Kommunikation beziehungsweise Kampagnen ausarbeite.  Die “East StratCom Task Force” sei ursprünglich mit der Absicht gegründet worden, russischer Desinformation entgegenzuwirken. Das könne eine Regierung so machen und das sei soweit auch in Ordnung; aber dann dürfe man nicht so tun, als würde man journalistische Inhalte produzieren. Denn die Grundhaltung dahinter folge einem Doppelstandard: Es gelten offenbar nicht die gleichen Maßstäbe für alle – nach dem Motto „Wir haben in der EU die Fakten, die anderen die Desinformation.“

Auch große Medienanstalten oder -organisationen agieren mit Hilfe ähnlicher Netzwerke, wie die von der BBC seit 2019 international ins Leben gerufene “Trusted News Initiative (TNI)”. Hier gebe es Absprachemöglichkeiten, was und wie über wichtige Sachverhalte international zu berichten sei und was besser nicht berichtet werden solle. “Trusted News Initiative announces plans to tackle harmful coronavirus disinformation” – „Trusted News Initiative kündigt Pläne zur Bekämpfung schädlicher Coronavirus-Desinformationen an“, schreibt zum Beispiel am 27. März 2020 die Europäische Rundfunkunion EBU, die mit rund 70 Rundfunkanstalten aus über 50 Staaten Partner der TNI ist.  Aber auch so bekannte „journalistische“ Plattformen und Konzerne, wie Facebook, Google/YouTube, Twitter und Microsoft, werden als Partner der „BBC-Initiative für vertrauenswürdige Nachrichten“ genannt.  Hierbei handle es sich, so Sieker, um einen besonders effizienten Weg „wahre“ Nachrichten effizient zu verbreiten.

Auch hier appellierte Sieker an Journalistinnen und Journalisten zu hinterfragen: Welche grundsätzlichen Positionen bzw. Gegenpositionen gibt es, und was ist deren jeweilige argumentative Grundlage? Was steckt hinter den zentral verwendeten Begriffen, wie sind sie entstanden? Es gilt, sich die verschiedenen Standpunkte bzw. Realitätsdarstellungen genauer anzuschauen. Was entspricht dabei der herrschenden und der nicht vorherrschenden Meinung? Das erste Ziel muss daher sein herauszufinden, was objektiv im Kern überhaupt geschehen ist; und auf welche Weise man das zunächst journalistisch genauer untersuchen kann?

Zu guter Letzt gab Sieker noch einige Tipps zur Recherche. Er betonte, dass man sich grundsätzlich immer erst das Thema klarmachen solle, um das es geht, um dann besser abgrenzen zu können, welche Aspekte man genau untersuchen will. Worauf liegt der Fokus? Wenn man sich in einem Themengebiet nicht auskennt, gilt es, sich entsprechend an Expertinnen und Experten zu wenden. Man kann und muss auch nicht alles Mögliche wissen, aber man sollte sich darüber im Klaren sein, was man nicht versteht, und dann ermitteln wie, wo und bis wann man an die zum Verständnis wesentlichen Informationen zum Thema herankommt. Mitunter muss das Thema inhaltlich auch eingeschränkt werden. Eine intensive und gute Recherche benötige vor allem Geduld, Zeit und auch Geld.

Im Anschluss stellten die Studierenden interessiert Fragen zum Thema Quellenglaubwürdigkeit und Siekers Recherchemethoden. Auf die Frage hin, wann man mit einem Thema an die Öffentlichkeit gehen kann, antwortete er: Wenn ein Thema und dessen wesentlicher Teil inhaltlich belastbar, für Dritte nachvollziehbar und juristisch abgesichert sei, könne man damit an die Öffentlichkeit gehen. Und dabei sei es egal, in welchem Format das geschehe – also ob es sich etwa um eine Form der Satire, einen Krimi oder um eine klassische TV-Dokumentation handle.

Wir bedanken uns recht herzlich bei Herrn Sieker für die spannenden Einblicke in seine Arbeit und bei der Organisatorin des Seminars Prof. Dr. Schiffer.

Mehr Infos zu Herrn Sieker:

Sieker wird nach dem Studium der Physik, Mathematik und Philosophie 1984 Fernsehjournalist und langjähriger Mitarbeiter der politischen Fernsehmagazine Monitor und Plusminus beim WDR. Von 1992 bis 2012 arbeitet er als Lehrbeauftragter für Fernseh- und Wissenschaftsjournalismus am Deutschen Institut für publizistische Bildungsarbeit („Haus Busch“) in Hagen. Er ist Autor verschiedener Fernsehdokumentationen, Herausgeber und Autor verschiedener Sachbücher und Filme zu den Themen Kernenergie, Abrüstung, Geheimdienste und Terrorismus. In den vergangenen Jahren arbeitete er als Rechercheur für Wolfgang Schorlaus Dengler-Krimi-Reihe und bis Ende 2020 für die ZDF-Kabarettsendung DIE ANSTALT. Seit 2003 ist er als Wissenschaftsjournalist in Berlin für das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte tätig.